Zum Gedenken an Professor Frederic Vester anlässlich seines 100. Geburtstages
Erinnerungen von Georg Schweisfurth
Der geniale Frederic Vester
An Frederic Vester knüpfen sich für mich sehr viele schöne und interessante Erinnerungen, wie ich sie als junger Mann Mitte 20 erleben durfte. Auf der persönlichen Ebene erlebte ich ihn als einen seriösen und uneitlen Menschen, der durch seine Sprache, seiner Kraft und auch mit seinem Humor und seiner Freude Menschen begeistern konnte. Diese Kraft nährte sich aus der Überzeugung, dass wir die Welt selbst gestalten können, deshalb auch Schlimmes und Böses abwenden können und deshalb positiv in die Zukunft blicken können. In der damaligen Zeit, als noch niemand so recht über ökologische Probleme und die sich daraus ergebenden Handlungspostulate sprach, war er etwas Besonderes. Diese Zeit war noch geprägt von größer-schneller-weiter, und billiger. Die Umweltschäden und überhaupt alle Folgewirkungen unseres Handelns auf Mensch, Tier und Umwelt hatten die Menschen kaum im Visier. Umso mehr war das, was Frederic Vester damals in die Welt setzte, für all diejenigen, die aktiv an der Heilung der Erde und nachhaltigen Entwicklung unseres Landes und unseres Europas mitwirken wollten, eine Wohltat und Initialzündung.
Frederic Vester hat das damals bekannte Wissen gesammelt, die Wechselwirkungen zwischen den Faktoren analysiert und daraus ein Konzept entwickelt, dass vielen als einen Handwerkskasten für die Umsetzung aller möglichen unternehmerischen und öffentlichen Aktivitäten diente. Der systemkybernetische Ansatz ist gegenüber dem technokratatischen Ansatz, der monokausal ist, anstrengender, aber es lohnt sich, die Wechselwirkungen im Blick zu haben, alle Eventualitäten zu kennen, damit man gute Entscheidungen treffen kann. Uns auf jeden Fall hat dieser Ansatz unsere vielen und manchmal wirren Gedanken geordnet, sodass wir später mit einem kräftigen JA sowohl den geeigneten Standort für die Umsetzung unseres Landwerkstätten-Konzeptes fanden als auch die Umsetzung der Ideen und Vorgaben aus der Studie kraftvoll angehen konnten.
Wenn man heute in der Rückschau innehält und die Bedeutung dieser Studie analysiert, kann man nur mit großem Dank an meinen Vater und Frederic Vester antworten, die in großer Voraussicht agierten und aus einer Vision eine Realität werden liessen. Die Herrmannsdorfer Landwerkstätten sind aus einer Vision geboren, denn es gab keinen Bauernhof, keine Metzgerei aus unserer Geschichte, die man hätte umnutzen oder umbauen und in ein neues System zwängen müssen.
Wir waren frei, und deshalb funktioniert diese System bis heute.
Die Fleisch-Dynastie Schweisfurth
Ein bisschen Geschichte: Meine Familie ist eine Metzgerfamilie aus dem Ruhrgebiet, nunmehr in der fünften Generation. Ich selbst bin auch gelernter Metzgermeister. Seit 1897 haben meine Vorfahren und wir aus einer kleinen Metzgerei in Herten in Westfalen das größte fleischverarbeitende Unternehmen Europas mit mehreren Fabriken in Deutschland, Frankreich, Österreich, auch sehr früh Südamerika und Afrika kreiert. Vormals hieß das Unternehmen „Schweisfurth“, später wurde aus „Schweisfurth“ „Herta, wenn es um die Wurst geht“.
In den sechziger Jahren wurde viel über Markenbildung nachgedacht, so dass man unseren etwas schwierigen Namen Schweisfurth Schritt für Schritt auf das kurze und merk–würdige Wort „Herta“ reduzierte. Das war ein entscheidender Schritt. Ein wichtiger Inspirator meines Großvaters Karl und später meines Vaters Karl-Ludwig war Hubert Strauff aus Düsseldorf, der in den Fünfzigern und Sechzigern Claims produzierte wie „Pril entspannte das Wasser“ oder auch „keine Experimente – wählt CDU“. Er schuf diese Marke.
Mein Urgroßvater Ludwig Schweisfurth sowie mein Großvater Karl Schweisfurth und später mein Vater Karl Ludwig Schweisfurth konnten das Unternehmen durch die vielen Jahrzehnte, auch durch die Kriege hindurch, durch ihren großen Fleiß gut entwickeln. Bei uns gab es die besten Metzger und deshalb die leckersten Würste, selbst als das Unternehmen schon groß war. Es war noch bis in die 60er Jahre hinein noch ganz tief drinnen handwerklich geprägt, was sich aber in den siebziger Jahren änderte. Die Technokratie zur ein und niemand hat die langfristigen Folgen erkannt.
Anfang der achtziger Jahre wurde es immer schwieriger, das Unternehmen wirtschaftlich zu führen. Die Konkurrenz wurde größer, und der sich im Entstehen befindliche organisierte Lebensmitteleinzelhandel wurde nach anfänglich sehr auskömmlichen Jahren der Belieferung so machtvoll, dass zeitweise unter Selbstkosten verkauft werden musste: der Preisdruck schlug sich zunehmend auf die Stimmung meines Vaters nieder, vor allem weil die Qualitäten ständig abnahmen. Aus einem handwerklichen Betrieb war längst ein industrieller Betrieb geworden, in dem Maschinen und Fleischtechnologie das Regiment übernommen hatten. Mein Vater war ein Handwerker, Metzgermeister und Qualitätsfreak mit Leib und Seele, und während in den Werkshallen die großen Maschinen liefen – blanker Taylorismus – , wurde den Auszubildenden noch das echte Handwerk in einer wunderschönen Handwerkstatt gezeigt. Mein Vater erlebte das als große Zerrissenheit.
Ausstieg und Neuanfang
Mit der Frage von uns Kindern in den Achtzigern, also meiner Schwester Anne und meinem Bruder Karl, wie denn die Tiere leben würden, die man zu zehntausenden jede Woche schlachtete, gab es keine Antwort. Erst mit den Besuchen auf den landwirtschaftlichen Betrieben nördlich des Ruhrgebietes, im Schweinegürtel von Vechta und Cloppenburg, wurde klar, dass wir uns mit verantwortlich machten für die Umstände dort: Spaltenböden, zu enge Koben, eiweißreiches Mastfutter aus Südamerika. Ein Leben im Elend. Kurzum: unser Unternehmen war zu groß geworden, um noch eine ökologisch sinnvolle und unserem Qualitätsanspruch entsprechende Versorgung mit Fleischwaren zu ermöglichen. Ein Keil war – so formulierte es Vester später – zwischen Erzeuger und Verbraucher getrieben worden, und zwar durch den mit der Monokultur eines Großbetriebes einhergehenden Zwang zu Zwischenlagerung, Zwischenkühlung, Konservierung, Verpackung, Transport und entrücktem Marketing.
Nicht nur bei uns warfen sich Fragen an das bestehende System auf. Die Verbraucher sind 1985 zunehmend durch Umweltskandale verunsichert, aktuell damals Östrogen im Kalbfleisch! Wachstumsförderer! Und keiner, weder die Landwirte noch die chemische Industrie, noch die Nährstoffhersteller und noch der Handel „legten die Karten offen auf den Tisch“. Das war die Chance für unser Projekt. Später dann schrieb Vester: „Aufklärung über Herkunft, Haltung und Fütterung der Schlachttiere, über die Art der Fleischherstellung, die Zutaten und Inhaltsstoffe in Wurstwaren, mit der Produktion zusammen hängende Recyclingmethoden etc. werden sicher vom Verbraucher honoriert und erhöhen die Akzeptanz des Pilotprojektes“.
Der wirtschaftliche Druck und die „innere“ Qualität der Produkte: dies waren im Wesentlichen die beiden Gründe, warum mein Vater einen neuen Weg einschlagen wollte. Er formulierte das so: „wir müssen zurück zu dem Punkt, wo das Fleischerhandwerk vom rechten Weg abgekommen ist. Und da fangen wir wieder neu an.“ Menschen, Tiere und Umwelt würden es ihm danken. Er hielt seine Idee in einem „Pamphleten“ fest, das er Anfang 1994 beim Fasten in Marbella verfasste. Seine Vision. Das war im Grunde später der Auftrag an Frederic Vester und später dann uns.
So wurde das Unternehmen an Nestlé verkauft, das ging sehr schnell. Sofort ging man an die Arbeit für ein neues System, bei dem Landwirte, Lebens-Mittel-Handwerker und Kundinnen und Kunden wieder zusammenkommen sollten, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. „Wieder zusammenbringen, was zusammen gehört“, so mein Vater. Heute nennt man das Regionalität. Eine Sehnsucht, die heute immer mehr Menschen teilen. Die Werkstätten, hier Lebensmittelwerkstätten gemeint, sollten wir in einem Dorf wieder dort sein, wo die Tiere, das Getreide, die Milch und das Gemüse „wachsen“. Und wo die Menschen leben, die diese Produkte kaufen.
Schweisfurth Stiftung
Mein Vater gründete 1985 nach dem Verkauf der Firma Herta die Schweisfurth Stiftung mit Sitz in München, in der zunächst Alternativen für die Landwirtschaft der Zukunft erforscht wurden. Auch stand „New Work“ auf dem Programm der Stiftung, schon damals. Der Mensch also immer im Mitelpunkt.
So half die Schweisfurth Stiftung in ihren Anfangsjahren dabei mit, die ökologische Landwirtschaft zu erforschen, zu etablieren und insbesondere dabei vor allem den bis dato etwas vernachlässigten Teil der nachhaltigen Fleischwirtschaft zu besetzen. Es trafen sich häufig Experten in der Stiftung, die sich austauschen konnten. Das Kuratorium war entsprechend formiert. Die Stiftung war ein Forum für neue Ideen, die natürlich teilweise an alte Praktiken in neuer Kombination erwuchsen. Nicht technikfeindlich, aber Technik in einem menschengerechten Mass. Nicht zurück in die graue Vergangenheit. So kam es auch, dass Professor Max Benecke, Physiker und Mitarbeiter von Prof. Hans-Peter Dürr, Professor Frederic Vester von der Hochschule der Bundeswehr in Neubiberg für die Erarbeitung dieses neuen und umfassenden land- und lebensmittelwirtschaftlichen Konzeptes empfahl. Seine Ideen zum vernetzten Denken waren zu jener Zeit bahnbrechend – und mein Vater war begeistert. Er las seine Bücher und war schnell überzeugt. Endlich ein systematischer Ansatz mit dem Ziel, alles zu bedenken, alles vorher zu sehen, gut vorbereitet zu sein für das Neue!
Frederic Vester hielt auch mit Kritik an den bestehenden System nicht hinterm Berg, was meinen Vater natürlich sehr gefiel. Die beiden waren Geschwister im Herzen. Beide in höchstem Maße von der Idee beseelt, eine neue, die Natur und die Kreatur schützende Welt zu schaffen. Frederic Vester war ja ein ausgewiesener Ökologe, der ein enormes Wissen über die Zusammenhänge in der Natur in Kombination mit dem Menschen – und was er daraus machte – besaß. Kybernetik als selbststeuerndes und -stabilisierendes System auf Grundlage einer möglichst weitreichenden Folgenabschätzung des alten Systems der Landwirtschaft und der Lebensmittelwirtschaft insgesamt.
Die Studie
Über eineinhalb Jahre wurde mit der „Studiengruppe Biologie und Umwelt GmbH“ an der „Systemstudie Landwerkstätten“ gearbeitet. Das war in den Jahren 1984 bis 1985. Es ging damals um ein neuartiges Werkstattkonzept für die Fleischverarbeitung, noch gar nicht Bäckerei, Brauerei und Käserei. Diese kamen erst im Rahmen der Umsetzung dazu. Das Ergebnis war eine zweiteilige Studie, die nach der Fertigstellung zu der Suche nach dem geeigneten Ort für die Entstehung der Landwerkstätten führte.
Wechselwirkungen im System
Ziel der Studie war die Ermittlung eines sich selbst regulierendes Systems, das sich aufgrund seiner genialen Konstruktion „positiv aufschaukelt“. Vester nennt das ein sich selbst verstärkendes System. Er unterschied zwischen dem technokroatischen Ansatz und seinem kybernetischen Ansatz. Es wird ein Szenario entwickelt, in dem die beteiligten Komponenten möglich simultan so abgestimmt werden, dass die Selbstverstärkung in die gewünschte Richtung läuft. In einem zunächst einfachen Modell wurden die Wechselwirkungen zu den folgenden Faktoren beschrieben: das Werkstattkonzept hat positive Auswirkungen auf die Verwertung und Vermeidung von Abfällen und seine Umweltbelastung. Um eine Verfügbarkeit von Ressourcen und Rohstoffen zu gewährleisten, wurde von Anfang an das Mitwirken von den übrigen landwirtschaftlichen Betrieben anvisiert. Des Weiteren spielen Standortvorteile für die Wirtschaftlichkeit eine Rolle, die untersucht werden – ein ganz wesentlicher Teil der Studie. Durch PR und Images-Kampagnen wird ein Kundenpotenzial geweckt, welches nach Möglichkeit in der Region – in der Studie ein Radius von 10 km – befindet.
Tiere
Auch die Zulieferung mit Tieren in unserem Fall wurde systematisch untersucht. Hierzu wurde ebenfalls ein Umkreis von 10 km gewählt. Hierzu wurden die Betriebsgrößenverteilung und die Entfernung zum Ort der Landwerkstätten systematisch analysiert. Damals war die Mehrzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Bayern noch unter einer Größe von 8 ha, und zwar 25 %. Von 1056 Betrieben in diesem Radius gab es nur 4 Betriebe über 100 ha. Das Zentrum des Radios war Odelzhausen. Man hatte Odelzhausen gewählt, weil es dort einen zum Verkauf stehenden Betrieb gab. Für die Belieferung der Landwerkstätten waren alle Betriebe unter 15 ha geeignet, so die Studie, das waren 720 Betriebe. Heute sieht es diesbezüglich sicherlich komplett anders aus.
Es war zu dem Zeitpunkt bereits klar, dass diese Betriebe auf eine ökologische Wirtschaftsweise umgestellt werden müssten. Kein synthetischer Dünger mehr, keine Ackergifte, stattdessen Fruchtfolge, natürliche Düngeraufbereitung wie Kompostierung und neue schonende Ackerbaumethoden. Man ging davon aus, dass man pro Woche zu Beginn 65 Tiere schlachtet und im Laufe der Zeit auf maximal 325 Tiere kommt. Dazu benötigt man 160 ha mit einem Flächenbesatz von zehn Tieren pro Hektar, gemeint sind natürlich Schweine. 25 Betriebe hätten am Anfang gereicht, um die Belieferung der Metzgerei sicherzustellen.
Arbeitskräfte
In der Studie wurden sogar die Arbeitskräfte in diesem Radius gezählt, die für diese Arbeiten infrage kommen. In einem Radius von 10 km kam die Studie zu dem Schluss, dass 600 potentielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundsätzlich zur Verfügung stünden oh, von denen aber nur 60 Personen von ihrer Berufsstruktur her infrage kommen. Bei maximal 10 Minuten Fahrzeit. Das schien für den Beginn bei der angestrebten Betriebsgröße zu gering.
Akzeptanz des Konzepts durch die Bevölkerung
Dies ist ein ganz wesentlicher Punkt. Akzeptanz erreicht man durch Wissen. Die Verbraucher- und Konsumgewohnheiten der Bevölkerung wirken nämlich zunächst negativ auf das Projekt. Durch intensivere Schulung und Beratung, etwa über ökologische Zusammenhänge, Ernährung und Umwelt, biologischen Land und Gartenbau, Abfallverwertungsmethoden, Hunger in der Welt etc. erhöht den Aufklärungs- und Informationsstand der Bevölkerung, was wiederum zur Erhöhung der Akzeptanz führen würde. Positive Rückkopplungen entstehen, wenn eine Nachfrage und Interesse an weiteren Schulungen und Beratung entsteht, also durch Imagebildung ein vermehrtes Interesse immer größerer Bevölkerungskreise entsteht. Hier entstehen die wichtigsten positiven Rückkopplungen: Ein hoher Aufklärungsstand in der Bevölkerung verstärkt die Akzeptanz des Konzeptes, umgekehrt kann das Konzept dann ein ökologisches Verbraucherverhalten fördern und damit wieder das Image des Pilotprojektes positiv beeinflussen. Ein einmal aufgebautes schlechtes Image hingegen lässt die Akzeptanz sofort sinken.
Keine Variable vernachlässigen!
Wenn man eine der Wechselwirkungen vernachlässigt, kommt die gewünschte Entwicklung also nie in Gang. Dies sei auch der Grund gewesen, warum alle bisherigen Versuche in diese Richtung trotz steigender Nachfrage nach ökologischen Produkten nicht zum Durchbruch kamen.
Die Voraussetzungen für den Erfolg sind da: der so genannte technokratische Weg funktioniert im Moment noch, wenngleich „er die volkswirtschaftliche Belastungsgrenze allmählich übersteigt und in Bälde umkippen könnte“, so Frederic Vester. Der kybernetische Weg kostet nichts, betonte er immer, sondern hat im Gegenteil durch clevere Verbundlösungen enorme wirtschaftliche Vorteile.
PR und Werbung
Raus aus der Anonymität! Es könnte eine neue Art von Werbung und PR entstehen, die glaubhaft, offen und informativ ist, „statt die Leute für dumm zu verkaufen“, so Vester. Hilfreich könnte, so meinte er, eine Art Öko- Gütesiegel sein, das nicht auf Rückstandsfreiheit, sondern auf ökologische Herstellungsweise pocht (…immer noch eine Riesen Diskussion in der EU).
Natürlich diskutierten wir immer die Frage, ob ein vormals Großndustrieller akzeptiert wird, also ob durch eine neuartige Verbundlösung und Kleinräumigkeit ein überlebensfähiges System geschaffen werden kann und gleichzeitig überzeugend dargestellt werden kann, dass Geldverdienen auch durch Umweltschonung möglich ist. „Man muss auch dem Verbraucher überzeugend klarmachen, dass er durch den Kauf von Produkten aus den Landwerkstätten nicht nur bessere Qualität bekommt, sondern damit auch ein nicht unbeträchtlichen Beitrag leistet, Umwelt, Böden und Ressourcen zu schonen“. Dazu sei allerdings ein „gutes, d.h. nicht von einer Werbefirma konzipiertes PR notwendig“, so Vester.
Das Werkstattkonzept
Bis heute arbeitet unsere Metzgerei nach den Prinzipien, die damals von Frederic Vester entwickelt wurden und von meinem Vater fachlich begleitet wurden. So steht bis heute (!) die Warmfleischtechnologie im absoluten Mittelpunkt. Diese ist insofern eine Retro-Innovation, weil es früher mangels Kühlmöglichkeiten keine andere Wahl gab als das soeben geschlachtete Tier schnellstmöglich zu zerlegen und das Fleisch im warmen Zustand direkt zu verarbeiten.
Warmfleischtechnologie geht nur, wenn man ein eigenes Schlachthaus an die Metzgerei koppelt. Im konventionellen Bereich wird geschlachtet, heruntergekühlt, transportiert, zerlegt, gelagert und dann im weiteren Verarbeitungsprozess erhitzt, wenn es sich um Brühwürste, Kochschinken und Kochwürste handelt. Hingegen braucht das warm verarbeitete Fleisch extrem viel weniger Energie und die Produkte schmecken besser. Weitere Details wie die stufenweise Herabkühlung des sogenannten Ladenfleisches (und die damit ein hergehende rasche Zartheit) oder die kunststoffverpackungsfreie Auslieferung tragen zur Reduktion von Umweltschäden bei.
Biogas und Wurzelraumklärung
1985 gab es nur wenige Biogasanlagen in Deutschland. Und wenn, dann nur im Versuchsstadium. Energie erzeugen aus Abfällen! Schon in der Studie wurden einige von diesen Prototypen erläutert. Das durch Vergärung erzeugte Biogas treibt ein Blockheizkraftwerk an, das Strom und Wärme erzeugt – bei einem hohen Wirkungsgrad. In Herrmannsdorf wurde dann später die erste große Biogasanlage in Bayern gebaut. Diese läuft heute noch. Selbst Schlachtabfälle und Blut konnten darin verwertet werden, Heute muss man diese thermisieren (130 Grad Celsius), bevor man sie in die Biogasanlage füllt. Das machen wir nicht mehr, die großen „Entsorger“ sind diesbezüglich heute besser angerichtet.
Die Wurzelraumklärung, die ebenfalls von Frederic Vester ins Spiel gebracht wurde, erwies sich hingegen als für die anfallende Abwassermenge zu ineffektiv, so dass man ein anderes neues Verfahren einsetzte: die Belebtschlammmethode nach Nordenskjöld, die mit aeroben Bakterien funktioniert. Auch diese Anlage ist heute noch im Betrieb und war Modell für weitere Anlagen in der Gemeinde Glonn, vielerorts in Bayern und darüber hinaus. Sie kommt mit einfachen Erdbecken aus, fügt sich also schön in die Landschaft ein, muss aber belüftet werden.
Den eigenen Dreck nicht der Gemeinschaft hinterlassen, und ihn wieder in den Großen Nährstoffkreislauf zurück zu bringen, das war das Credo.
„Das Misstrauen ist groß“
So lautet auch die Überschrift über ein sehr ausführliches Kapitel, in dem es ganz offen um die Widersacher geht, die es im traditionellen Bayern der ökologischen Landwirtschaft gegenüber zu dem Zeitpunkt noch zu Hauf gab.
Vor allem die Tatsache, das ein „Großindustrieller“ aus Westfalen (=Preussen) sich in Bayern einkaufen wird, hat Frederic Vester ständig beschäftigt. Wie kann es gelingen, die Menschen in der Region (trotzdem) mitzunehmen? Ich erinnere mich sehr genau, das Frederic Vester nicht besonders erfreut war, als wir das doch stattliche Anwesen Herrmannsdorf erwarben, wo wir ja auch heute noch sind. Er sagte zu uns: „ das ist kein Beispiel für die Bauern“. Man erkennt seine sozialistische Haltung.
Um diesen Unwegsamkeiten zu begegnen, haben wir von Anfang an immer mit offenen Karten gespielt. Das war uns extrem wichtig. Bereits in der Planungsphase wurden immer wieder alle Nachbarn und interessierten Bürger eingeladen, sich über den Stand des Projektes zu informieren. Sehr bildhafte Modelle und Pläne wurden präsentiert, auch zum Essen gab es immer leckere Sachen. Und Bier.
Es gab einen sehr intensiven Austausch mit den Planungsbehörden in Ebersberg und auch dem damaligen Landrat Beham. Fast alle Amtsbereiche waren involviert: Das Bauamt, das Wasserwirtschaftsamt, das Landwirtschaftsamt, das Denkmalamt und auch das Arbeitsamt. Was wir von den Behörden in Ebersberg benötigten, war ja nicht banal: dass Gewerbe auf einem landwirtschaftlichen Betrieb stattfindet, war bis dato noch nie beantragt worden. Aber Herrmannsdorf war dann nach drei Jahren der Absprache zu einem Sondergebiet erklärt. Einem Flächennutzungsplan und einem Bebauungsplan. In diesem war Bauen in einem klar abgesteckten Bereich möglich. Oh das war ein nicht immer einfacher Weg . Aber sie wollten, Wie es auf Frederic Vester immer betonte, Ein Beispiel setzen, dass es nachfolgenden ähnlich gearteten Projekten einfacher machen würde.
Wenn man etwas Großes und ungewöhnliches schaffen will, braucht man Sitzfleisch. Und auch ein finanzielles Polster. Gottseidank war die Stärke meines Vaters, mit seiner Persönlichkeit, mit seinem bildlichen Sprache und seiner Überzeugungskraft die Leute zu überzeugen. Das führte auch dazu, dass sehr schnell die ersten Bauern sich als Lieferanten zur Verfügung stellten und auch umstellungsbereit waren. Mehr Umweltleistung, mehr Tierschutz führt zu hören Preisen. Für die Bauern ging die Rechnung auf.
Wie immer im Leben gab es auch Widersacher: der spinnt, der Schweisfurth, das war oft zu hören und war sicherlich Thema an den Stammtischchen. Mein Vater drehte dann mit der Hilfe das genialen Werbers Hans Georg Kortmann den Spieß einfach um und verfasste ein Buch mit dem Titel: „Der hat einen Vogel“. Auf dem Titel Vogel gestanzt, der sich durch alle Seiten hindurch Zug. Der Text war allerdings Ein sehr persönlicher Bericht über Seine Beweggründe. Das Buch wurde zu tausenden gedruckt und war für jeden verfügbar – Gratis.
Heute liefern etwa 120 Betriebe landwirtschaftliche Erzeugnisse an Herrmannsdorf. Heute ist Herrmannsdorf – das kann man wirklich mal sagen – Ein Leuchtturm in Süddeutschland geworden.
Suchkriterien 1985
Aus dieser Studie gingen Suchkriterien in Form einer Liste hervor, die ich damals als Auftrag für die Suche nach einem landwirtschaftlichen Objekt diente, hey bei dem man auch Eine weitere Verarbeitungseinrichtung – sprich eine handwerklich geprägte Metzgerei – realisieren konnte. Zu diesem Zwecke war ich im ganzen Umkreis um München herum mehrere Monate unterwegs, traf mich mit Maklern, inspizierte die Möglichkeiten und Gab Berichte ab. Oh das war eine interessante Aufgabe, natürlich immer mit der Suchkriterien Liste in der Hand! Erst nachdem wir denn großen Gutshof Herrmannsdorf südöstlich von München gefunden hatten, wurden daraus die „Herrmannsdorfer Landwerkstätten“.
Die Suchkriterienliste umfasste Kriterien wie:
- Ein intaktes landwirtschaftliches Umfeld, also eine kleinbäuerliche Struktur
- Die Nähe zu einer Metropole, um die Wege kurz zu halten, und zwar in beiden Richtungen
- Ein Fließgewässer für die Kühlung, und ein Vorfluter für die Errichtung einer Kläranlage
- Eine aufgeschlossene Bauernschaft, die mitmachen würde
- Raum für alle geplanten Funktionen
- Gute öffentliche Anbindung
- Genügend landwirtschaftliche Fläche, um beispielhaft Landwirtschaft zu betreiben
- Eine Gegend, in der Lebensmittelhandwerk noch gepflegt wird, auch in Bezug auf Arbeitskräfte
- Eine aufgeschlossene öffentliche Verwaltung
- Eine aufgeschlossene Bürgerschaft, durch Umfragen und PR ermittelt
Tiefe der Studie an einem weiteren Beispiel
Beim Standort wurde es dann auch noch sehr viel konkreter. So wurde – hier beispielhaft gemeint – in die Standortanforderungen hineingenommen:
- Ackerland für Mischfutteranbau Hackfrüchte, Getreide, Stroh,
- Feuchtbereiche wie Fließgewässer Wurzel Raumverfahren Fischteiche und Schweinesohlen,
- Waldstücke für den Schweineantrieb, Hecken, Baumgruppen, Auen, Bachuferbestand für Artenvielfalt, Windschutz, Schönheit und Attraktivität des Standorts,
- Bodenerhebungen für Erdhäuser stelle Klimaschutz
- Höhendifferenz für Recycling und Wärmerückgewinnung, Böden Güte nicht unter 40
- Lehmboden und Schwarzerde auf Kies, möglichst nicht mit Kunstdünger durchmineraliensiert,
- Nähe Ausfallstraße eventuell eventuell Bahnanschluss, leichte Zulieferung,
- Direktverkauf durch Vertrieb in Großstadtbezirke,
- Ausreichende Zulieferungsmöglichkeit von Schlachttieren aus dem Radius von 10 km,
- Größe des Werkstattgeländes zwischen 16 und 120 ha je nachdem, ob mit eigener Landwirtschaft gearbeitet wird oder nicht
- Weiterhin erwünscht wäre die Nähe von Holzverarbeitungsbetrieb, Nährmittelfabrik (Abfälle aus Humusgrundlage), Klärwerk (Kooperation über Algenlieferung), Restaurationsbetrieb (Degustation) und eine Brauerei (Recycling etc.).
Man sieht an diesem kleinen Beispiel, Wie tief in die Details hinein die Studie arbeitete.
Die besondere Herangehensweise Vesters
Die Studie umfasste an die 670 Seiten in zwei Büchern und beschäftigte sich im ersten Abschnitt mit dem System Vester, angewandt auf die Lebensmittelwirtschaft. Ganz wesentlich war die Darstellung des Beziehungsnetzwerkes, das zu etablieren auf stabile und nachhaltige Füße zu stellen war. Viele farblich gestaltete Schaubilder erleichterten die Lektüre, so wie es bei Frederic Vester in seinen Büchern und Vorträgen immer der Fall war.
In den weiteren Abschnitten ging es um die Interdependenzen mit den verschiedenen Faktoren außerhalb und innerhalb des Systems. Es ist eine voll umfängliche Analyse sämtliche Relationen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Diese wurden selbstverständlich auch gewichtet. Das war ein guter Wegweiser für die spätere Umsetzung und die stringenter Abarbeitung sämtlicher sich daraus ergebender Aufgaben. Immer wieder auch wurden die praktischen Bezüge hergestellt, was die Studie sehr lebendig macht. Sie ist dadurch eine interessante Ansammlung von bereits umgesetzten Projekten im In- und Ausland, immer wieder thematisch genau eingestreut. Es ist also auch ein sehr interessantes Zeitdokument Für die Frage: wie war denn das damals? Wo standen die ökologische Bewegung Mitte der achtziger Jahre? Die achtziger Jahre sind ja der Ursprung für den sich danach extrem entwickelnden ökologischen Lebensmittel-Bereiches.
Die ökologischen und sozialen Ideale Frederic Vesters und seines Teams zieht sich wie ein roter Faden durch die Studie. Auch wenn zeitweise persönliche Gefühle und subjektive Wünsche zu erkennen waren, wurden sie im Anschluss stets mithilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen in eine Objektivität zu bringen versucht. Das Thema Landwirtschaft, eines der grundlegenden Kulturellen Errungenschaften beziehungsweise Bereichen unseres daseins, hat Frederic Vester immer sehr fasziniert, oh weil er erkannte, das in diesem Feld großer Handlungsbedarf besteht. Mitte der achtziger Jahre hatte man erkannt, dass der schon seit vielen Jahrzehnten auch mit der Erfindung des synthetischen Düngers um die vorletzte Jahrhundertwende eingeschlagene Weg der industriellen Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln in die Sackgasse geraten ist. So wurden in der Studie hunderte von Ansätzen und Beispielen Präsentiert, die eine nachhaltige Wirtschaftsweise in unserem Bereich der Lebensmittelverarbeitung fördern würden. Manche Dinge waren noch in der Entstehung, manche bereits umgesetzt. Wie später, als die Landwerkstätten in an, Haben wir viele Prototypen getestet, Viel ausprobiert, auch vieles wieder verworfen, wie beispielsweise einen Horizontalflügler, der Strom erzeugen sollte, aber der Aber leider bei starken Wind derart instabil und gefährlich war, dass wir ihn wieder abbauen mussten.
Zusammenfassung
Im Projekt Herrmannsdorfer Landwerkstätten wurden folgende Parameter der Symbiose verwirklicht (siehe Frederic Vester: Die Kunst, vernetzt zu denken, Pantheon Verlag 1999):
- Dezentrale Produktion und Kleinräumlichkeit fördert Symbiosen mit der Umgebung
- Verbundlösungen verflechten Produktion mit Entsorgung, zum Beispiel Biogasproduktion aus organischen Abfällen, Mist und Gülle
- Kommunikation zwischen Produktion und Abnehmen bedeutet gegenseitige Unterstützung und kreative Wechselwirkung in Hinblick auf biologische Ernährung, Umwelt und Naturschutz.
- Direktvermarktung und Naturverfahren wie Warmfleischverarbeitung und Herkunftsgarantie bringen Bauern und Verbraucher zusammen
- Gewächshauskombinationen ermöglichen Symbiose von Kleinviehhaltung, Kräutergarten, Erholung, Klimatisierung
- gegenseitige Stärkung von Psycho biologisch Vernünftiger Tierhaltung mit Umweltsanierung, Entsorgung, bessere Qualität, Tierschutz und geringeren Haltungs- und Tierarztkosten.
- Natur verbundene Bauweise, Begrünung der Gebäude stützt kybernetische Klimatisierung und die Nutzung regenerative Energien
- dadurch Kopplung von Umweltschonung mit Rentabilitätsteigerung
- kybernetische Produktionsstruktur. „Bedürfnisse“ und „Abfälle“ unterschiedlicher Werkstätten profitieren voneinander.
- innerer Systemverbund durch Kooperation zwischen Produktion, Vertrieb, Hofbewirtschaftung, Mini Brauerei, Käserei und andere nicht Fleischproduktionen.
- äußerer Systemverbund: soziale Akzeptanz der Werkstätten stützt Produktions Akzeptanz und umgekehrt. Zulieferung und Abfallaustausch mit Landwirten.
- Die zentrale Vermarktung fördert Symbiose Vorteile durch kleinen Räumlichkeit. Dadurch Minimierung von Transport, Lagerung, Konservierung, Verpackung
- Verbundsysteme mit benachbarten Betrieben und Dienstleistungen für Recycling und Energienutzung sowie Austausch von Arbeitskräften
- Kooperationen mit Gemeinden, Behörden, Vereinen. Dadurch Belebung des Werkstattbetriebs, Festigung des Images, Zugang von Öffentlichkeit und Medien.
Danke
Mit Frederic Vester verbinden sich wirklich schönste Erinnerungen. Mit ihm und seinen Mitarbeitern haben wir etliche Reisen unternommen, haben uns landwirtschaftliche Betriebe angeschaut, die anders mit der Kreatur Tier umgehen und haben auch sehr viele Beispiele zur alternativen Energieerzeugung sowie alternativen Abfallverwertung besucht. Best Practices. Wir nahmen uns viel Zeit zum Reden und Diskutieren. Im Nachhinein gesehen war das ein unglaublicher Luxus, sich so intensiv auf das Projekt Landwerkstätten vorbereiten zu dürfen. Eben: am Anfang steht immer eine klare Vision.
Ich selbst bin mit ihm in diesen Jahren oft zu seinen Vortragsveranstaltungen gereist, weil ich seine Art zu reden und seinen Themen für mich als jungen Mann sehr anregend und spannend fand. Es entwickelt sich eine Beziehung. Das ist mir nach 40 Jahren durch die Erstellung dieses kleinen Überblickes wieder klar geworden. Er war ein besonderer Mensch in meinem Leben. Ich trug immer seine Koffer.
Georg Schweisfurth 2025